Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Die Tour de France ist zwar für alle Zuschauer offen, jedoch gibt es besondere Bereiche in denen nur besondere Leute, z.B. Fotografen, mit speziellen Ausweisen gelangen. Dies ist zwar nicht unüblich – was uns jedoch wunderte, war der Umfang dessen: der gesamte Raum links neben der Startrampe war nur für Zuschauer mit einem speziellen Ausweis verfügbar. Ein wahrer Radsportfan (oder ein Belgier an sich) lässt sich jedoch nicht von griesgrämigen Sicherheitsleuten und hohen Zäunen beeindrucken. Um einen kleinen Teich herum, fast direkt an er Startrampe und ausserhalb des Sichtfeldes der Security, kletterten Väter mit ihren Kindern, kichernde Ehemänner mit ihren unbeholfenen Ehefrauen, dreiste Jugendliche und am Ende auch wir über einen 2m hohen Zaun; gingen einmal um den Teich herum und hinein in den riesigen, fast menschenleeren Bereich links neben der Startrampe. Die paar anwesenden Fotografen hatten sich sowieso hinter einem extra-Gitter verschanzt oder standen direkt auf der Strecke – wir hatten also niemanden gestört und niemand schien sich an uns zu stören. Während sich der normale Pöbel auf der gegenüberliegenden Straßenseite bereits früh am morgen postieren musste, hatten wir genug Platz, um die im Minutentakt startenden Fahrer von der Rampe fahren zu sehen und ein paar Fotos zu machen.
Zuvor mussten wir erneut noch einmal die gesamte Strecke hinter der Startrampe abgehen, um zu unserem anvisierten Platz zu kommen. Dies führte uns erneut vorbei an den Teambussen der 22 teilnehmenden Teams, wo man nicht nur die Fahrer beim Aufwärmen beobachten konnte, sondern auch einige Profis, die erste Testrunden drehten – darunter auch Marcel Kittel bei seiner ersten Tour de France, mit einem seligen Grinsen im Gesicht. Als wir um 12 Uhr beim Liquigas Bus ankamen, startete gerade die berühmte Werbekaravane der Tour. Beeindruckend albern gestaltete Fahrzeuge von Haribo, Vittel, irgendwelchen französischen Brotherstellern und Radiostationen, mit (noch) sehr motivierten Studenten, die zu ohrenbetäubenden Krach mit kleinen Werbeartikeln um sich warfen. Leider konnten wir keine coolen Sachen abstauben. Ausser einem Schlüsselanhänger, einem Brillenputztuch und einer Tasche, welche Sondermünzen der 27 französischen Regionen bewirbt, war für uns nichts drin.
Schnittchentribühnen
Leider gab es entlang der Strecke immer wieder diese Schnittchentribühnen und exklusiven Pressebereiche, was einen Engländer dazu veranlasste, einen Zuschauer mit gelben Bändchen um das Handgelenk und einem Sektglas in der Hand sarkastisch zu fragen, ob man die Bändchen denn kaufen könnte. Wir hatten dennoch alles richtig gemacht, auch wenn es auf der anderen Seite der Strecke definitiv lustiger war. Die größtenteils belgischen, französischen und niederländischen Fans machten bei jedem ihrer Landsmänner einen unglaublichen Krach, selbst bei den eher unbekannten Fahrern in französischen Wildcard Teams wie Saur-Sojasun oder Cofidis. Der Durst nach belgischem Bier führte uns später wieder zurück in den volleren Bereich der Strecke. Das Wetter entsprach nicht der Vorhersage – im Gegensatz zu Regen und Sturm war es den ganzen Tag sonnig. Langärmelig, mit Pullover im Rucksack und ohne Sonnencreme in Lüttich anzukommen war also offensichtlich eine doofe Idee; die Damen vom Souvenirstand mit den schicken Le Coq Sportiv T-Shirts verdienten durch den Umstand allerdings gutes Geld an uns…
Liège ist eigentlich eine schöne Stadt. Natürlich hatte sich die Stadt für den Grand Dèpart besonders fein gemacht; die Gärten blühten und der neue Bahnhof sah schon besser aus, als bei Google Maps, dennoch gefiel uns der Charme der kleinen Nebengassen und den Croque/Sandwichläden an jeder Ecke, dessen Wirte kein Wort englisch sprechen konnten. Unterbrochen wurde die kleinstädtische Architektur von wilden 70er Jahre Betonbauten und von außen sehr unansehnlichen Hotels und Spielcasinos. Eingerahmt in das Ardennenpanorama und umgeben von wild gewordenen Phillipe Gilbert Fans empfehle ich jedoch jeden, spätestens zu Lüttich-Bastogne-Lüttich einen Besuch in dieser Stadt. Vom Ruhrpott aus sind es mit dem Nahverkehr nur ca. 2,5 std Fahrtzeit.
Eine gute Platzierung
Die besten Streckenabschnitte befanden sich nicht an der Startrampe, auch weil die Fahrer auf der breiten Straße zu weit weg vom Publikum waren. An engeren Passagen konnte man den Profis direkt ins Gesicht schauen und, in unserem Fall, Klödi direkt ins Ohr brüllen. Auch die Abschnitte nach den Kurven mit Grünstreifen in der Mitte, welche wir gegen Ende aufsuchten, waren perfekt zum Beobachten und Fotografieren, da die Fahrer erst auf der einen Straßenseite und dann auf unserer Seite entlang fuhren. So konnte man auch die Geschwindigkeiten der Fahrer gut abschätzen, z.B. war Fabian Cancellara als vorletzter gestartet und rauschte in perfekter Zeitfahrerhaltung an uns vorbei, während Cadel Evans, als Letzter gestartet, so lange auf sich warten ließ, dass ein Raunen durch das Publikum ging.
Von Tony Martin’s Platten erfuhren wir erst nach dem Rennen, da keiner von uns französisch sprach und die Durchsagen des Kommentators nur halb verstanden. Gerne hätten wir Tony in Gelb auf dem Podium gesehen, aber es sollte nicht sein, zudem wäre es eh unmöglich gewesen, bis zum Podium durch die Menschenmassen vorzudringen. Die Frage, ob er Fabian Cancellara hätten schlagen können sorgte auch später im Zug zurück für viele Diskussionen. Angeblich hatte er durch den Platten 20 Sekunden verloren und kam mit 23 Sekunden Rückstand zu Cancellara ins Ziel. Es wäre also sehr knapp geworden. Trotz allem hat Fabian Cancellara bewiesen, dass er der König der Prologe ist: es war sein fünfter Sieg im traditionell ersten Zeitfahren der Tour, seinen ersten Sieg holte er sich 2004 auf der selben Strecke in Lüttich. Auf kurzen, technisch anspruchsvollen Kursen ist Cancellara fast unschlagbar, er feierte sein Comeback von einem vierfachen Schlüsselbeinbruch standesgemäß bei der Tour de France.
Beeindruckend war auch die Leistung von Patrick Gretsch, welcher sich noch vor dem russischen und belgischen Zeitfahrmeistern, Dennis Menchov und Phillipe Gilbert, platzieren konnte. Eine überraschend gute Form bewies auch Sylvain Chavanel, welcher als 113. von 198 Fahrern startete und am Ende nur von Cancellara und Bradley Wiggins geschlagen werden konnte.
Ein ICE führte und mit Sonnenbrand im Gesicht vom Bahnhof Liège-Guillermins zurück in die Heimat. Vielleicht schaffen wir es auch im nächsten Jahr zum Grand Dèpart auf Korsika?
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