Rückblick: Mailand – San Remo 2013

Zwei Tage vor Frühlingsanfang sollte mit „La Primavera“ nicht nur offiziell der Winter enden, sondern auch endlich die Radsportsaison mit dem längsten und ersten Frühjahrsklassiker des Jahres beginnen. Mailand – San Remo war am Ende alles andere als Frühlingshaft, durch den heftigen Schneefall und die dadurch verkürzte Strecke auch nicht allzu lang, aber trotz allem äusserst episch.

MSR2013

Schon vor dem Start in Mailand war abzusehen, dass es für die Fahrer ein sehr kalter Tag auf dem Rad werden wird. Der Passo del Turchino war mehr oder weniger unbefahrbar, der Schneematsch und die Temperaturen um 0°C machten ein Rennen (Schalten, Bremsen, im Windschatten fahren, zwischendurch Essen/Trinken) im wörtlichen Sinne unmöglich – auch wenn ein paar Sonntagsfahrer im Internet unter herben Realitätsverlust litten, wenn sie andeuteten, dass die Profis sich besser anziehen sollen, schliesslich hätte man selbst „mal bei einem Radausflug im Schnee“ gefroren.

Unter den Profis machte sich einen Tag vorher Panik breit:

Peter Sagan Milan San RemoNachdem in Belgien und Frankreich bereits einige kleinere Rennen aufgrund des verschleppten Winters in Europa abgesagt werden mussten, versuchten die Veranstalter von Milan – San Remo den Schaden zu begrenzen, indem sie auf die ungewöhnliche Idee kamen, die Fahrer erst einmal die 120 Kilometer zum verschneiten Passo del Turchino fahren zu lassen, um sie dann in ihre Teambusse einzuladen, und dann eine Autobahnausfahrt weiter wieder starten zu lassen. Dadurch wurden den Fahrern 46 Rennkilometer im Schnee erspart. An diesem Punkt waren viele Profis jedoch bereits mit den Nerven am Ende, Twitter Foto-Updates aus dem Bus zeigten dicke Schneematsch-Schichten auf den Helmen, Eiszapfen an den Brillen, komplett durchnässte und nur teilweise, eher gequält lächelnde Profis. Bevor es um 15 Uhr weiter ging, wurden im Bus noch schnell Schuhe geföhnt, Tee getrunken und noch etwas gegessen. Einer der wenigen, die das Ganze anscheinend entspannt angingen und noch Witze rissen, war der Hauptfavorit Peter Sagan. Mit Kuchen in der Hand und schiefem Grinsen, schickte er ein Instagram Bild an seine Fans mit der Unterschrift: „Hey… It’s nice caffe break during the race Milan- SanRemo…“.

Der drittletzte kleine Anstieg, Le Manie, wurde von den Veranstaltern letztendlich auch noch gestrichen, damit die Fernsehübertragungen nach der fast zweistündigen Unterbrechung einigermaßen pünktlich endeten. Weiter ging es in Cogoleto, um noch die letzten 130 Kilometer von Mailand – San Remo zu absolvieren. Ein paar Fahrer verließen den Bus erst gar nicht mehr, um zum zweiten Teil des Rennens anzutreten, darunter Tom Boonen, der anmerkte, dass dieses Rennen nur noch wenig mit dem eigentlichen Mailand – San Remo zu tun hat.

Hinter dem Turchino lag zwar kein Schnee, es war dennoch kalt und es regnete in Strömen. Der Australier Baden Cooke umschrieb es passend:

Schon vor der Zwangspause hatte eine kleine Gruppe von Fahrern versucht sich loszulösen und fuhr sieben Minuten auf das Hauptfeld heraus, darunter befanden sich unter anderem Lars Bak von Lotto Belisol und Pablo Lastras aus dem Team Movistar. Dieser Abstand wurde beim Neustart um 15 Uhr berücksichtigt, die insgesamt sechs Ausreisser durften daher 7:10 Minuten vor dem Rest starten. Daraus ergab sich das ungewohnte Bild eines aus dem Stand heraus startenden Feldes, vor Ablauf der sieben Minuten mühsam zurückgehalten von einem Ordner. Was danach folgte, war nicht unbedingt attraktiver Radsport: frierende Profis mit Gesichtern die, durch den aufgewirbelten Dreck der Hinterrads des Vordermanns, in ihrer Färbung an die der Kohlekumpels aus dem Ruhrpott der 60er Jahre erinnerten und die in ihre Handschuhe pusteten, um wieder etwas Gefühl in die Finger zu bekommen. Einige wendeten einen Trick an und rotierten ihre Arme, teilweise synchron, propellerartig, um das Blut zurück in die Hände zu verlagern, was von den TV Kameras in Slow-Motion dokumentiert wurde. Vereinzelt mussten Profis das Rennen aufgeben, darunter Vincenzo Nibali, der eine Erkältung als Grund anführte.

Favoriten wie Geraint Thomas (Sky) und Tyler Farrar (Garmin-Sharp) stürzten in einer Kurve vor dem Cipressa und waren somit raus aus dem Renngeschehen. Einige Fahrer, die man laut Medienberichten bereits unter den Aufgaben zählte, tauchten aus dem Nichts wieder auf: zum Beispiel Sylvain Chavanel, der auf der Abfahrt vom Cipressa, dem vorletzten Hügel vor dem Ziel, mutig attackierte. Durch den Sturz von Geraint Thomas war Teamkollege Ian Stannard auf sich alleine gestellt und zog mit Chavanel mit. Sie fuhren 30 Sekunden auf das Feld heraus, bevor Peter Sagan am letzten Anstieg zum Poggio ordentlich in die Pedalen trat und die beiden wieder einholte. Gerald Ciolek und Fabian Cancellara erkannten die Situation und zogen mit – die entscheidende Gruppe war vier Kilometer vor dem Ziel beisammen. Hinter ihnen kam das Feld immer näher und ein weiterer Fahrer, der bereits als „abandoned“ gelistet wurde, führte den Sprint aus dem Hauptfeld heraus an: als die führende Gruppe Taylor Phinney sah, wurde es vorne hektisch.

Stannard attackiert, wird vom Rest eingeholt, Cancellara zieht an und Stannard attackiert auf den letzten 1,8 Kilometern erneut – dann kam der Hauptfavorit: Peter Sagan eröffnet den Sprint, Gerald Ciolek hängt sich dran, schert aus, pumpt in die Pedalen, gewinnt dieses chaotische Rennen vor dem Slowaken und setzt diesem epischen Rennen mit seinem Überraschungssieg das i-Tüpfelchen auf.

Peter Sagan's Gesicht spricht Bände. Ganz rechts im Bild Fabian Cancellara, der dritter wurde

Peter Sagan’s Gesicht spricht Bände. Ganz rechts im Bild Fabian Cancellara, der dritter wurde

Der 26 Jahre alte Kölner Gerald Ciolek ist bereits seit acht Jahren Profi. Er wurde im Alter von 18 jahren Deutscher Meister und verbrachte die letzten zwei Jahre bei Omega Pharma-Quick Step, wo er zuletzt im Februar 2012 die Chance auf einen Etappensieg bei der Algarve Rundfahrt bekam. Zu Beginn dieser Saison wechselte er als Teamleader zum ersten afrikanischen Pro Continental Team MTN Qhubeka, die zudem eine gute Philosophie mitbringen: mit dem Sieg bei Mailand – San Remo kommt das Team seinem Ziel, eine Million Fahrräder in abgelegenen Gebieten in ihrem Heimatland Afrika zu verteilen, einen großen Schritt näher.

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