Tour de France 2010: Jens Voigt platzt auf der Abfahrt der 16. Etappe von Bagnères-de-Luchon nach Pau der Vorderreifen. Der unvermeidliche Sturz resultiert in mehreren Rippenbrüchen und tiefen Schnittwunden im linken Arm. Jens steht auf, sieht das Fahrrad und denkt zuerst: das Rad ist hin, wie beende ich die Etappe?

Tour of California 2011 – Foto: mnorri (Flickr) CC-BY-NC-SA
Der Teamwagen war längt weg, auch das Auto mit den Ersatzrädern war vorbeigezogen. Der Besenwagen stand bereits neben ihm aber er weigerte sich einzusteigen. Zufällig fuhr gerade ein Transporter vorbei, welcher eigentlich Fahrräder für Kinder bereitstellt; Jens Voigt leiht sich ein viel zu kleines gelbes Rad mit Korbpedalen und fährt weiter. Währenddessen drückt sein Teamchef Bjarne Riis einem Polizisten am Wegesrand das Ersatzrad in die Hände. Jens fuhr letztendlich 20km auf einem Kinderrad, mit dem Ziel Paris vor Augen.
Die Motivation und den Ehrgeiz unbedingt diese Etappe zu beenden, war unter Anderem das Ergebnis aus seinem Sturz im Jahr zuvor. Sein Rad verlor auf einer Abfahrt aus für ihn unerklärlichen Gründen die Bodenhaftung und Jens landete direkt auf seinem Gesicht, während er weiterschlittert sprühen an seinem Rad funken. Aussagekräftiger als der Sturz an sich, ist das Resultat, zu sehen in einem Interview ein paar Tage danach:
Mit diesem Gesicht zu fragen, ob er ein paar Tage später die Dänemark Rundfahrt fahren kann, ist typisch Jens. Letztendlich hat es acht Wochen gedauert, bis er in der Lage war wieder auf ein Rad zu steigen.
Was Jens ausmacht
Aber nicht nur die Stürze und die Selbstverständlichkeit, danach einfach wieder aufzustehen und weiterzufahren, machen ihm zu einem der beliebtesten Fahrer der Radsportwelt. Er in seinem Team derjenige, welcher sich für seine Kapitäne verausgabt und so lange kämpft, bis es nicht mehr geht. Seine Aufgaben bestanden in den letzten Jahren unter Anderem darin, in den Bergen der Tour de France so lange wie möglich vorweg zu Fahren und Tempo zu machen, um seine Teamkollegen Frank & Ändy Schleck auf den Berg zu helfen und deren Gegner zu verausgaben. Seine mentale Strategie gegen die Schmerzen in den Beinen beschrieb er als „Shut up legs!“ und dies hilft ihm so lange durchzuhalten, die Anderen attackieren und er strauchelnd zurückfällt und dabei am Ende seiner Kräfte fast stehenbleibt. Jens Voigt ist in der Regel jedoch derjenige, der als „König der Ausreißer“ Schmerzen verursacht, wenn er früh attackiert und das Peloton damit unter Druck setzt. Manchmal reicht es für einen Etappensieg; so geschehen bei der Tour de France im Jahr 2008 auf der 13. Etappe nach Montelimar, wo er bei 44°C mit einem Vorsprung von 29:57 Minuten vor allen Anderen ins Ziel fuhr.
Als Allrounder hat er fünf mal das zwei-Tages-Klassikerrennen Critérium International gewonnen. Jedoch hat er hat sich den Anspruch, dass die Arbeit für sein Team und die Erfolge mindestens genauso viel Wert sind, wie ein persönlicher Einzelsieg in einem Rennen. Sein größter Wunsch wäre es daher, Andy Schleck endlich zu einem Toursieg zu verhelfen, nachdem er ihn bereits zwei Mal auf die zweite Stufe des Treppchens in Paris gebracht hat (nicht mitgezählt: der nachträglich anerkannte Toursieg von Andy Schleck aufgrund von Contadors rückwirkender Dopingsperre).
Als Wahlberliner und Vater von sechs Kindern strahlt Voigt eine innere Ruhe und Unverfälschtheit aus, die vor allem in Interviews zum Vorschein kommt. Es gibt zahlreiche Clips auf YouTube in denen er über seine Liebe zu Kaffee sinniert, seine Stürze herunterspielt oder sich mit seinem unverwechselbaren deutschen Akzent in Jens-isms verliert: „I am a stomach person, not a head person.“.
Seine Karriere
Jens‘ Profi-Radsportkarriere begann relativ spät. Mit 22 Jahren gewann er im Jahr 1994 die Friedensfahrt (Amateur-Weltcup, die „Tour de France des Ostens“) und bemühte sich früh in einem Profi-Team unterzukommen, was ihm jedoch über zwei Jahre hinweg nicht gelang. Auch Team Telekom, das damals einzige große deutschen Radsportteam, sah in ihm nicht das Talent welches er besaß, obwohl er wörtlich „auf Knien nach einem Vertrag gebettelt“ hatte. Im Nachhinein ist er froh darüber, in Skandale war er als einziger deutscher Radfahrer seiner Generation nie verwickelt. Bradley Wiggins sagte in einem Interview sogar, dass Jens Voigt der lebende Beweis dafür ist, dass Radsport sauber sein kann.
Seine Karriere begann weit weg von Deutschland, das australische Team ZVVZ-Giant gab ihm im Jahr 1997 endlich eine Chance, ein Jahr später, im Alter von 26 Jahren, startete er bei GAN (später Crédit Agricole), wo er fünf dankbare Jahre verbrachte; erfolgreich seine erste Tour de France zu Ende fuhr und daraufhin die Angebote sämtlicher deutscher Teams ablehnte.
Jens über seine Erfahrungen bei seiner ersten Tour de France im Jahr 1998:
»Voller Euphorie gestartet, mit Chris Boardman den Prolog gewonnen in Irland, das Gelbe Trikot gehabt am ersten Tourtag ich dachte nur „Whoa das hier ist ja total cool! Gelbes Trikot! Wir fahren vorne Tempo und so!“. Dann hab ich drei Tage später das Bergtrikot noch geholt, auf der Etappe nach Pau, auf dem Podium gewesen und so; dann kommen die Journalisten und erzählen mir dass ich erster Deutscher bin im Bergtrikot, ich so: „Ehrlich? Wow! Wie cool ist das denn!?“. Ja und den nächsten Tag im Regen und Nebel zwei Mal wiiirklich übel gestüzt, mich eigentlich mehr mit Charakter als mit Form noch ins Ziel gerettet den Tag und irgendwie noch hier was zusammengenäht und geflickt und hin und her… Ja und dann bin ich die nächsten zehn Tage eigentlich nur noch auf dem Zahnfleisch nach Paris gekrochen, ich war überhaupt nicht mehr einsetzbar, hatte Wunden überall und hab mir gesagt „Ne ich kann nicht aufgeben, meine erste Tour!“ und bin dann ja wirklich auf dem Zahnfleisch bis nach Paris gekrochen…«

Jens Voigt kurz vor der 4. Etappe der Tour de France 2010 – Foto: mnorri (Flickr) CC-BY-NC-SA
Die Tatsache, dass er als Deutscher nie für ein deutsches Team fuhr, obwohl er aus der selben Gegend wie der etwas jüngere Jan Ullrich stammt und als Fahrer in der DDR die selbe Förderung genoss, ist für ihn nicht weiter von Bedeutung. Bei der Tour de France im Jahr 2004 wurde er von deutschen Fans ausgebuht, weil er Tags zuvor Ivan Basso, seinem Teamkapitän und Anwärter für den Gesamtsieg, half die Lücke zu Jan Ullrich zuzufahren und diesem somit wichtige Sekunden für das Gelbe Trikot abnahm.
Jens Voigt betont, dass seine Loyalität zuerst seinem Team und seinem Kapitän gehört und erinnerte daran, dass er sich bei den Olympischen Spielen im Jahr 2000 den „Arsch aufgerissen“ hatte, um Jan Ullrich zur Goldmedaille zu verhelfen.
Dieses Jahr fährt er seine 15.Tour, im September feiert er seinen 41. Geburtstag. Nach erfolgreichen Jahren mit Bjarne Riis bei CSC und Saxo Bank wechselte er, zusammen mit den Schleck Brüdern, im Jahr 2011 zu Team Leopard-Trek und fährt dort in der Saison 2012 unter dem neuen Namen Radioshack-Nissan. Seine Zukunft sieht er weiterhin im Radsport; die jahrelange Erfahrung, welche er nach eigener Aussage „mit Blut, Schweiss und Tränen“ erarbeitet hat, möchte Jens an junge Fahrern weitergeben – obwohl die Gerüchte, dass er nach seinem Karriereende ein Buchladen mit Coffeshop eröffnen will, von ihm nie ganz aus der Welt geschafft wurden. Dabei wäre er allerdings sein bester Kunde, „Bücher lesen und 35 Capuccinos trinken“, das klingt wie die Beschreibung des Paradieses für ihn. Eine schöne Vorstellung.
Spitzname: Ze Jensie, Boeing
Größter Erfolg nach eigener Aussage: Sieg vom damaligen Teamkollege Carlos Sastre und dem gleichzeitigen Sieg der Teamwertung der Tour de France im Jahr 2008
Fahrertyp / Funktion: Helfer, Klassikerspezialist, Ausreisser
Twitter: @thejensie
Weiterführende Links:
Das Jens Voigt Soundboard von der Jens Voigt Army, sehr unterhaltsam. Auch als App!
Ausführliches Interview (englisch)
Profiathlet mit 40, Jens‘ Gedanken dazu
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