„I’ve got that camera too!“ Blaž Jarc wirkte um 9 Uhr morgens auf dem Weg zum Teambus wacher als ich und hatte vor dem 200 Kilometer langem Rennen offensichtlich gute Laune. Die Münsterland Giro durfte ich in diesem Jahr vom Auto des Team NetApp-Endura mitverfolgen – eine Premiere für mich. Auch wenn ich vorgewarnt wurde, dass man vom Rennen an sich in der Wagenkolonne nicht viel mitbekommt, war ich trotzdem äußerst angetan von dem Einblick den ich dadurch bekam. Es hat unheimlich viel Spaß gemacht!
Enrico Poitschke ist bereits seit der Gründung des Teams Sport Direktor bei NetApp-Endura. Er begrüßte mich freundlich, bevor ich mit Kamera und Handy neben ihm auf dem Beifahrersitz platz nahm. Hinter mir: Mechaniker Hans, drei Ersatzreifen, die Rucksäcke der Fahrer, eine Kühlbox und zwei weitere Ersatzreifen im Kofferraum. Die Karte wurde noch einmal studiert und schon machte sich der Tross aus Teamauto, Bus und Van auf den Weg zum Start in Beckum, 50 Kilometer weiter östlich von Münster.
Beckum ist ein typisch westfälisches Städtchen mit einer verwinkelten Innenstadt. Anscheinend hatte uns das Navi über eine kleine Schleife geschickt, sodass die Busse der anderen Teams bereits auf dem kleinen Parkplatz standen und wir uns irgendwo dazwischen mogelten. Die Jungs blieben erstmal im Bus, während die beiden Mechaniker die Räder aufbauten, Bremsen einstellten, Reifen aufpumpten und die Schaltung überprüften. Auf jeden Vorbau wurde mit einem kryptisch bedruckten Klebestreifen versehen – Kilometerangaben mit zwei Ausrufezeichen, „^“ für den einzigen Hügel im Rennen und ein S für Sprint? Ich habe leider vergessen zu Fragen, was es genau bedeuten sollte. Der angenehm-penetrante Geruch von Eukalyptus-Massageöl und Gesäßcreme lag in der Luft. Man hörte surrende Räder, das Klicken, wenn die Schuhe aus den Pedalen gezogen werden und von weitem den aufgeregte Ansager an der Startlinie.
Mittlerweile hatten die Fahrer ihre Jogginghosen gegen Trägerhosen eingetauscht und entstiegen dem Bus gut gelaunt für eine erste kleine Fahrt, um die Beine in Gang zu bringen und um die Räder zu testen. Autogrammjäger sortierten hektisch durch ihre Auswahl an Kärtchen und die Fahrer unterschrieben, sofern das Bild zum Gesicht passte. Der obligatorische, über den Lenker gebeugte Blick auf die Bremsen verlief unter den Fahrern fast synchron. Auf die Routine folgte das Festziehen der Bremshebel und das Testen der Reifen durch ruckartiges Hämmern des Vorderreifens auf den Parkplatzasphalt, gefolgt von einem erneuten Blick auf die Bremsen und so weiter. Nach der Probefahrt meldete sich Jonathan McEvoy, der Engländer und, laut Profil auf der NetApp-Endura Website Sunnyboy des Teams, mit einem fast unverständlich dicken Scouse Akzent bei Hans, der seine Frage schnell beantworten konnte. McEvoy schien zufrieden, bei seinem „Alright, Alright“ fehlten in der Aussprache mindestens drei Buchstaben.
Der Start
Der Start erfolgte in der Innenstadt von Beckum, wo an diesem sonnigen Feiertag bereits einige Leute warteten und die Kinder aufgeregt die vorher verteilten, aufblasbaren Stäbe gegeneinanderschlugen. Enrico legte das Teamauto so geschmeidig in die Kurven, dass ich des öfteren vom Haltegriff über der Tür gebrauch machen musste. Auf freier Strecke reihten sich die Autos mühelos und ohne Chaos in die ihnen zugeloste Nummer in der Kolonne. Eine lange, schöne Linie aus Fahrern, Rennleitung, Motorrädern, Teamautos und Krankenwagen machte sich auf dem Weg durch das Münsterland. Enrico hat seinen Beruf mehr als verinnerlicht. Mit einem kritischen Blick aus dem Fenster kommentierte er das Wetter: „Hm, sehr windig heute“. Was mir in der Innenstadt von Münster nicht auffiel, konnte er an den Feldern und Wiesen erkennen, die den starken Böen nachgaben. Da das Rennen größtenteils über schmale Landwege führte, war dies eine wichtige Erkenntnis und sollte den Rennverlauf erheblich beeinflussen. Als das Rennen offiziell gestartet wurde, schaltete Enrico den Kilometerzähler an. 200 Kilometer in mehreren Runden durch das Münsterland folgten.
Der Tourfunk knarzte durch das Funkgerät und informierte uns über die Fahrernummern in der ersten Ausreißergruppe des Tages. Hans schrieb hinter mir die Nummern auf und nannte Enrico die dazugehörigen Fahrernamen mit Teams. Unter den Ausreißern war auch Tony Martin – wie wir spätestens seit der Vuelta wissen, ist der Zeitfahrweltmeister auch Solo eine ernst zu nehmende Gefahr und könnte den Sprintern das Finish vermiesen. Die Teams, die nicht in der Gruppe waren, gerieten nun unter Zugzwang. Enrico fuhr zum Feld vor, nickte der Rennleitung im Auto kurz zu und wurde zu Scott Thwaites durchgelassen, der sich am Ende des Feldes befand. „We have to be in the break!“ rief er dem Engländer durch das Fenster zu, „tell them!“ woraufhin Thwaites in die Pedalen trat und sich auf den Weg zum Anfang des Feldes machte.
Auch wenn es dem Team nicht gelang Teil der Ausreißergruppe zu sein, waren sie die treibende Kraft hinter der Tempoverschärfung im Feld, wodurch der Vorsprung stets unter einer Minute blieb. Hans reichte mir Kuchen und Wasser nach vorne und die Zeit verging wie im Flug. Wir verbrachten die nächsten 60 Kilometer bei strahlendem Sonnenschein in der Wagenkolonne, mit Blick auf vorbeiziehende Felder, jubelnde Zuschauer, passive Zuschauer mit Handykameras, sowie Fahrer und DS’s bei der Pinkelpause. Was ich vor der Fahrt immer nie verstand: wie erkannten die Teamautos, dass einer ihrer Fahrer im Rennen den Arm hoch hielt? Wann immer ein Fahrer im hinteren Feld sich meldete, registrieren dies die Organisatoren und gaben es durch: „Argos, nach vorne, Argos to the front“, woraufhin das Auto aus der Kolonne ausscherten und dem Fahrer Kleidung abnahm, etwas besprach oder ihm Essen und Trinken anreichte. Untereinander gab es in der Kolonne keine Reibereien. Wenn sich ein Fahrer zu lange am Auto fest hielt oder jemand versuchte, im Windschatten der Autos ans Feld heranzufahren, gab es über Funk von der Rennleitung eine Verwarnung im drohenden Tonfall.
Währenddessen fuhr Scott Thwaites scheinbar rückwärts. Er war seit der Tour of Britain krank und konnte nicht trainieren, als unser Auto ihn einholte, erklärte Enrico ihm den Weg zur Verpflegungsstelle, wo unser Bus stand. Er wählte mit gequältem Blick die Option Besenwagen.
Belkin übernimmt
Die Ausreißer fielen nach und nach zurück und beim 80. Kilometer waren alle wieder eingeholt. Das Team Belkin übernahm die Führung und sprengte das Feld. Ein ProTour Team kann in einem solchen Rennen erheblichen Schaden anrichten, daher taten sich große Lücken auf. Wir fuhren an einzelnen Fahrern und kleineren Gruppen vorbei, die nicht mehr mithalten konnten. „Haste gesehen? Belkin kam nach vorne und dann wars vorbei.“ Ralf Matzka krallte sich am Fenster fest und erzählte von den Befindlichkeiten im Feld. Hans reichte ihm Wasserflaschen, woraufhin er die alten Flaschen in einem gekonnten, hohen Bogen wegwarf, die neue Bidons blind annahm und im Korb verstaute. Dass ich ihm meine Kamera mitten ins Gesicht hielt, schien ihn nicht zu stören.
„Ich hab ihn schon fast auf der Motorhaube liegen sehen.“
Nach knapp 130 gefahrenen Kilometern wurde ich Zeuge eines perfekten Beispiels von Schwarmintelligenz: Auf einem breiten Abschnitt der Bundesautobahn zerstreute sich die Kolonne in die Breite und einzelne Fahrer steuerten die Teamautos an, um Kleidung abzugeben und Flaschen zu holen. Blaž Jarc wurde zum Auto geschickt und gab einen Klumpen Kleidung ab, besprach sich kurz mit Enrico und belud seine Trikottaschen mit Gels und Riegeln. Er bedankte sich höflich und verschwand kurz vor einer Kurve in einer Lücke zwischen zwei Fahrzeuge, was uns im Auto die Nackenhaare zu Berge stehen lies. Hans lachte, Enrico schüttelte den Kopf.
Blaž entkam einem Sturz, anderen erging es schlechter. In einem von weitem erkennbaren Turm aus Rädern lagen verheddert drei Fahrer nach einem Sturz innerhalb des Feldes. Sanitäter kümmerten sich darum, schwer verletzt wurde dabei niemand.
Die letzten 50 Kilometer sollten sich als Rennentscheidend erweisen. Die Musik wurde ausgestellt und der Funk meldete sich im Minutentakt mit den Nummern und Zeiten der aktuellsten Attacken. 40 Kilometer vor dem Ziel konnten sich fünf Fahrer absetzen, die es als Gruppe ins Ziel schaffen sollten. Als sie einen Abstand von einer Minute zum Feld überschreiten konnten, wurden deren Teamwagen über Funk nach vorne beordert. Es wurde ihnen erlaubt, hinter den Ausreißern zu fahren. „Belkin nach vorne, Belkin to the front“.
Ein ungeschönter Einblick ins Hauptfeld
Auf der Suche nach neuen Innovationen in der Radsportübertragung wurde einmal in Erwägung gezogen, den Funk zwischen Auto und Fahrer für die Fernsehzuschauer hörbar zu machen. Für mich leuchtet nun ein, dass das keine gute Idee wäre. Dass der Ton im Feld rau ist, wenn ein Haufen Männer in Spandex mehrere Stunden an ihre körperlichen Grenzen gehen, ist ein Understatement. „Wissta watt, ihr könnt mich mal!“ kommentierte ein Fahrer unser Manöver hinüber zu Roger Kluge. Dazwischen: Dreckige Lacher und Spucklaute mit Material aus den Untiefen der Nebenhöhlen. Kluge überblickte die Situation und schilderte Enrico leicht außer Atem aber mit guter Laune den Zustand der Fahrer und die Pläne für das Finale.
Eine finale Runde in Münster
Anscheinend fuhr das Feld durch den starken Wind am Limit und die Ausreißer erreichten schnell einen Vorsprung von zwei Minuten. Somit war die Entscheidung gefallen. Die letzte Runde durch Münster wurde ohne Autos absolviert, weil der Abstand laut Rennleitung zu groß war und die Fahrer die Autos hätten überrunden können.
Wir parkten neben dem Teambus auf dem Münsteraner Schlossplatz, wo die Soigneurinnen bereits fleissig Flaschen verteilten. Es war das letzte Rennen der Saison, somit verschenkten sie alle Bidons, da zum nächsten Jahr sowieso neue geordert wurden. Ich habe mir selbstredend auch welche eingesteckt.
Blaž Jarc sprintete auf den 18. Platz und die verbliebenen Fahrer eierten nach 200 Kilometern in den Beinen zum Bus. Ich unterhielt mich mit den netten Soigneurinnen, die die verbliebenen Flaschen ausleerten und unser Teamauto zusammen mit den Mechanikern freiräumten. Ich ergriff die Gelegenheit und fotografierte Michael Schwarzmann alleine vor dem Bus. Er fragte mich, wie es im Auto war, ich erzählte von Blaž‘ haarscharfem Manöver – „Ja, das wird schon manchmal echt knapp“, so Schwarzi, der in seiner Profilaufbahn sicher schon unvermeidbar viele Begegnungen mit dem Asphalt hatte.
Ich holte mir für die Website noch ein Statement von Enrico und liess mir von den Soigneurinnen den Weg zum Bahnhof erklären. Dorthin lief ich über die Promenade der schönen Stadt Münster. Ein gutes Ende eines Tages, der für mich zu den Highlights in meinem Dasein als Radsportfan gilt.
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